Welche Art von Kirche kann sich über die Zeit retten?

Leonardo Boff
Theologe
Erd-Charta Kommission

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Der Kern der Botschaft des Jesus von Nazareth war nicht die Kirche, sondern das Reich Gottes: eine Utopie einer totalen Revolution/Versöhnung mit der gesamten Schöpfung. Das lässt sich daran ablesen, dass die Evangelien, mit der Ausnahme des Matthäus-Evangeliums, nie von Kirche sprechen, sondern immer vom Reich Gottes. Mit der Ablehnung der Person und der Botschaft Jesu wurde auch das Reich Gottes nicht verwirklicht. Stattdessen entstand die Kirche als eine Gemeinschaft derjenigen, die Jesu Auferstehung bezeugen und versuchen, dessen Vermächtnis in ihrer jeweiligen Zeit zu leben.

Seit den Anfängen stehen die Christen vor einem Dilemma: Das Gros der Gläubigen wählt das Christentum als einen spirituellen Weg im Dialog mit der Umgebungskultur; die andere, wesentlich kleinere Gruppe unter der Kontrolle des Kaisers beschließt, die Moralvorstellungen des wahrlich dekadenten Römischen Reichs zu übernehmen. Diese Glaubensgemeinschaft übernimmt für sich auch die juristischen und politischen Strukturen des Kaiserreichs. Diese Gruppe, d. h. die Hierarchie, strukturiert sich intern als „heilige Vollmacht“ (sacra potestas). Dies war ein hoch riskanter Weg, denn wenn es etwas gibt, das Jesus immer ablehnte, dann ist es die Macht. Für ihn gehören die drei Ausdrucksweisen der Macht, so wie sie in den Versuchungen in der Wüste auftreten – prophetisch, religiös und politisch -, und wenn sie sich eher im Beherrschen als im Dienen zeigen, in den Bereich des Diabolischen.

Dennoch war dies der Weg, den die Kirche wählte – eine hierarchische Institution, einer absolutistischen Monarchie nachempfunden, die den Laien, der großen Mehrheit der Gläubigen, eine Teilhabe an dieser Macht verweigert. Dieser Zustand währt bis zum heutigen Tag und steht im Zusammenhang mit einer der größten Vertrauenskrisen. Es ist nun einmal so, dass wenn die Macht vorherrscht, die Liebe in die Flucht geschlagen wird.

Tatsächlich ist das Organisationsprinzip der Kirche bürokratisch, formell und nicht selten starr. Sie fordert alles, jedoch wird nichts weder vergeben noch vergessen. Es gibt praktisch keinen Raum für Barmherzigkeit oder für ein wirkliches Verständnis für die Geschiedenen und die Homosexuellen. Zölibatspflicht für die Priester, ein tief verwurzelter Antifeminismus, ein Misstrauen gegenüber allem, das mit Sexualität und Vergnügen zu tun hat, der Personenkult um den Papst und dessen Anspruch, die einzig wahre Kirche zu repräsentieren, der „einzigen Bewahrerin des ewigen, universellen und unveränderlichen Naturgesetzes“. Und mehr noch: nach den Worten von Benedikt XVI. erfüllt sie eine Leitfunktion für die ganze Menschheit. Im Jahr 2000 wiederholte der damalige Kardinal Ratzinger im Dokument Dominus Jesus die mittelalterliche Doktrin, derzufolge es „außerhalb der Kirche kein Heil“ gibt und alle, die sich außerhalb ihrer befinden, Gefahr laufen, verdammt zu werden. Für diese Art von Kirche gibt es sicherlich keine Rettung. Allmählich verliert sie weltweit an Anhängern.

Wie sähe eine Kirche aus, die es wert wäre, gerettet zu werden? Es wäre eine Kirche, die demütig zur historischen Figur des Jesus von Nazareth umkehren würde, dem einfachen und prophetischen Arbeiter, dem Fleisch gewordenen Sohn, beauftragt zu verkünden, dass Gott gegenwärtig ist und Gnade und Barmherzigkeit für alle bereithält; eine Kirche, die die anderen Kirchen als unterschiedliche Ausdrucksweisen des heiligen Vermächtnisses Jesu anerkennt; eine Kirche, die offen ist für den Dialog mit allen Religionen und spirituellen Wegen, in denen sie das Handeln des Geistes erkennt, der immer schon vor dem Missionar an Ort und Stelle ist; eine Kirche, die bereit ist, von der angesammelten Weisheit der ganzen Menschheit zu lernen; eine Kirche, die auf jedwede Macht und Medienspektakel des Glaubens verzichtet, sodass sie nicht bloß die Fassade einer nicht-existierenden Lebendigkeit darstellt; eine Kirche, die sich zum Anwalt aller Unterdrückten macht, die bereit ist, Verfolgung und Martyrium zu erleiden wie ihr Begründer; eine Kirche, deren Papst mutig auf den Anspruch der Jurisdiktionsgewalt über alle verzichtet und stattdessen zum Zeichen und Bezugspunkt der Einigkeit des Christlichen Lebensentwurfs wird mit dem pastoralen Auftrag, alle in Glauben, Hoffnung und Liebe zu bestärken.

Eine solche Kirche ist für uns möglich, vorausgesetzt wir sind ist eingetaucht in den Geist des Nazareners. Nur dann würde sie eine Kirche der Frauen und Männer, eine Kirche Jesu, eine Kirche Gottes, der Beweis, dass Jesu Utopie vom Reich Gottes wahr ist. Sie würde zum Ort der Verwirklichung des Reiches der Befreiten werden, zu dem wir alle gerufen sind.

Leonardo Boff
28.09.2012

Über Bettina Gold-Hartnack

Ich habe u. a. kath. Theologie und Deutsch für das Lehramt studiert (1. Staatsexamen an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt 1990), eine Ausbildung zur Fremdsprachen-korrespondentin IHK absolviert und mit meinem Mann und unseren drei Kindern knapp 20 Jahre in Frankreich gelebt. Anfang September 2014 bin ich wieder nach Deutschland gezogen und arbeite inzwischen für einen Online-Shop, der weltweit Accessoires für Musikinstrumente vertreibt. Übersetzen, vor allem das Übersetzen theologischer Texte, bereitet mir viel Freude und umso mehr, wenn ich mit meinen Übersetzungen dazu beitragen kann, Leonardo Boffs Texte einer noch breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Übersetzungen fertige ich ehrenamtlich an und deren Veröffentlichung geschieht in Übereinkunft mit Leonardo Boff. Wer sich weiter in dieser Thematik auch in anderen Sprachen einlesen möchte, den verweise ich gern auf die Seite Leonardo Boffs: https://leonardoboff.org/
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